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Ulrich Schödlbauer: Kontur der Schwester

JUDITH
Die mittlere da, eine trauernde Magdalena, hast du so etwas schon gesehen?

PARERGA
Ist das nicht unsere gute Judy? Mir schwant so etwas.

JUDITH
Und da ist Hosni, unser guter Hosni.
Hosni, komm runter von deinem Affenfelsen, es war alles ein Irrtum.
Ich wollte dir deine Judy nicht abspenstig machen, das war nicht mein Programm.
Ich könnte dir auch ein bisschen Geld leihen, damit deine Sprinter wieder rollen.
Es hat mir gut gefallen bei euch, das möchte ich doch gesagt haben.
Judy ist so ein warmer Mensch, man muss sie gernhaben.
Aber da wir gerade hier sind, möchte ich dir auch einen Rat geben:
Du musst deine Emotionen zeigen.
Deine weiblichen Anteile sind ganz schön, aber die kennen wir schon.
Du bist ja so schüchtern, dass es einer Frau schwerfällt - he!

Aufgebracht.

Der Kerl schweigt. Der Kerl schweigt einfach.
Parerga, dahinter steckt meine Mutter.

PARERGA
Diesmal täuscht du dich, meine Liebe. Dahinter steckst du.

JUDITH
Muss ich das verstehen?

PARERGA
Du musst nicht. Aber die da oben hören uns nicht und die da unten hören uns nicht zu. Die Gelegenheit ist also günstig. Deine Mutter ist eine großartige Frau. Sie lebt wie ein Mann, aber nur fast. Sie hat etwas, was die Männer nicht haben oder nur wenige: sie hat eine Tochter. Um das zu begreifen, musst du wissen, wer du bist.

JUDITH
O Parerga! Du enthüllst mir das Geheimnis meiner Geburt? Komm, lass dich umarmen. Das hat seit meinem fünften Lebensjahr schon jede versucht. Ich verstehs nicht, ich verstehs nicht. Der Kerl war reich, er hat sie nicht sitzengelassen, er war sogar nett zu ihr, was ich nie geschafft habe, was war los mit ihm? Oder mit ihr? Das wollte ich schon immer gern wissen.

PARERGA
Du solltest differenzieren, liebe Judith. Er war nett zu ihr, oberflächlich, er war bemüht, oberflächlich, er war auch anhänglich und sogar ehrlich, oberflächlich -

JUDITH
reich, oberflächlich -:

PARERGA
Darum geht es nicht.

JUDITH
Er war ein Mann.

PARERGA
Wenn du mir nicht zuhören willst, kann ichs auch lassen. Deine Mutter hatte für dich ein Programm. Als du kamst, war dieser nette, anhängliche, ehrliche Mann eine Gefahr, die sie nicht einfach hinnehmen konnte. Zu unseren Zeiten eine junge Frau zu formen war eine Aufgabe, verstehst du, eine Aufgabe.

JUDITH
Ist es das nicht immer?

PARERGA
Wenn du mich dauernd unterbrichst, sitzen wir hier bis zum Sankt Nimmerleinstag. Das war es nicht immer, jedenfalls nicht so. Deine Mutter hat sich bis ins kleinste Detail mit uns beraten, das war gut so, das musste so sein. Dass sie fähig war, so zu sein, macht sie zu der starken Frau, die sie ist. Wenn wir die Herrschaft der Männer kappen wollten, mussten wir bei der Psyche der Töchter beginnen.