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Ulrich Schödlbauer: Kontur der Schwester

Dritter Akt


Dunkle Bühne.

ANSAGERIN im Proszenium, gemessen. Allmählich gibt die Bühne den beschriebenen Anblick frei.
Etwas, das aussieht wie ein Regal mit offenen Fächern, ragt aus etwas, das ein Fluss sein könnte, aber es fließt nichts. In den Fächern sitzen Figuren, die mittlere hat ihren Kopf verhüllt und trägt ein kurzes Kleid. Sie ist die Ausnahme. Sonst sind alle Figuren nackt - vielleicht machen sie sich nichts vor. Ein Paar Beine ragen aus dem Wasser, das wird sicher seinen Grund haben.

HOSNI oben links, abwesend.
Was bedeutet der Mann oben links, der sich den anderen Fächern zuwendet, in die er vielleicht gar nicht hineinblicken kann? Er sitzt auf einer Art Schemel und stützt den Kopf mit der rechten Hand: er grübelt. Sein Grübeln gilt vielleicht den Fächern, in denen eine Galerie junger Frauen sich in unterschiedlichen Posen mit ihren Kindern beschäftigt. Nur bei der Wabe rechts unten bleibt unklar, ob es eine Frau ist. Es scheint doch eher ein Mann zu sein. Die Beine sind eckig gehalten, die ganze Figur wirkt gelöst und verschlossen in einem, das reicht für ein Geschlecht.

JUDY in der mittleren Wabe.
Nach den Zehen zu urteilen ist die Figur, die ins Wasser taucht, ein Mann. Ich bin mir nicht sicher, ob er es tut, um sich ein Bad zu nehmen oder das Leben. Die im Wasser verschwindenden Beine sind die des darüber sitzenden Mannes unten rechts, nur gespiegelt. Ist es sein Gegenbild, das vergeht? Ist es er selbst, eine Szene später? Wenn das so ist, wo ist dann das Kind hingekommen?

HOSNI
Mag sein, es handelt es sich um den Einsamen oben links. Ziehe ich die Perspektive richtig in Betracht, so vollzieht sich der Untergang unmittelbar zu Füßen der trauernden Figur, die mich an eine erinnert, die ich gekannt habe. Verhüllt sie deswegen ihr Gesicht?

JUDY
Kann sein, der Einsame ist nicht so einsam, wie er sich vorkommt. Mindestens zwei dieser so eifrig mit der Kinderpflege befassten Mütter haben ihn irgendwie im Visier. Wie das geht, weiß ich nicht. Eine Art Fingerzeig wird es sein. Der Mann mit dem Kind auf den Knien kommt mir vor wie eine Chronos-Figur, wie einer, der seine Kinder auffrisst, jedenfalls, wenn ich ihn ansehe, überschleicht mich ein krummes Gefühl.

HOSNI
Im Zentrum, von allen Seiten umschlossen, sitzt die Trauernde, die mich, vielleicht zu Unrecht, an eine Magdalena erinnert. Jetzt fällt mir auf, dass ihre Zelle als einzige eine Öffnung besitzt: ein Gitterfenster, das auf den Chronos-Typ geht, von dem sie sich aber abgewandt hat. Um wen mag sie weinen: um den Ertrinkenden? Um das Kind, das vom Vater verschlungen wird? Warum glaube ich, dass sie weint? Sie hält die Hand vors Gesicht: erschrocken also, entsetzt? Vielleicht kommt das Entsetzen von innen und nichts von dem, was um sie herum vorgeht, kommt in sie hinein? Mir fällt das Eckige, abgeschnitten Wirkende ihrer Schulter auf. Schon wächst meine Antipathie: Was ist das für eine? Was will sie? Worauf sinnt sie? Wie sieht ihr Stück vom Kuchen aus und wie will sie an ihn herankommen? Täuscht sie mich, täuscht sie alle? Hat sie Grund, ihr Gesicht zu verbergen? Vielleicht ist es Scham, die sie bewegt.

JUDY
Ich hasse ihn. Mag sein, dass ich mich hasse, aber soweit will ich nicht gehen. Selbsthass, was soll das sein? Welchen Sinn sollte das ergeben? Wenn es keinen Sinn ergibt, ist es nichts für mich. Wäre Hosni hier, könnte ich ihm eine scheuern. Woher kommt es, dass ich nicht früher daran gedacht habe? Auch das ergibt keinen Sinn. Ich muss einen Sinn sehen, wenn ich mich entscheiden soll. Man hat mir tausend Mal gesagt: Entscheide dich, vielleicht komme ich deshalb nicht über diese Schwelle. Man kann das doch nicht trainieren wie einen Muskel. Und selbst wenn, dann sind es vielleicht die falschen Dinge, an denen man es lernt, und man wurde nur angehalten, sie zu verwechseln. So habe ich den dort vielleicht verwechselt, der mich sieht und nicht sieht und mich für eine andere hält, eine trauernde Magdalena vielleicht, aber da hat er sich geschnitten. In mir ist keine Trauer, wenn doch, ließe ich sie aus mir heraus, dass es eine Freude wäre, eine Freude aus Trauer, das klingt auch seltsam, aber man kann es machen. Die Trauer liegt hinter mir, sie ist mir wie eine Rasierklinge durchs Gesicht gegangen, heute bin ich die, an der man sich schneidet.