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Ulrich Schödlbauer: Kontur der Schwester

PARERGA
Bitte, die Herrschaften. Ich höre unsere Judith schon. Wir wollen sie doch nicht leiden machen. Sie darf Sie nun einmal nicht zu Gesicht bekommen, es bekommt ihr nicht. Vorwärts, meine Lieben!

JUDITH
Ist mein Liebster dahin, was weckst du mich früh? Laß mich noch liegen! Vielleicht träum ich mich zurück in eines Vogels leichten Leib oder in eine junge weiße Gazelle!
O daß ich mich nimmer verwandeln kann!
O dass ich den Talisman verlieren musste
in der Trunkenheit der ersten Stunde!
Gern wäre ich das flüchtige Wild, das seine Falken schlagen. Das war meine Spezialität, ich komme mir so unnütz vor, als müsste ich morgens zur Arbeit und kein Taxi wartete vor der Tür. Was soll ich machen? Mich betrinken wie meine Mutter? Das nützt sich ab. Warte mal, ich habe eine Idee. Aber bevor ich sie ausspreche, musst du mir etwas verraten.

PARERGA
Nichts lieber. Was möchtest du wissen?

JUDITH
Er träumt, er macht wieder Jagd auf mich, wenn er unterwegs ist, ja?

PARERGA
Das kann schon sein. Aber er hält es für ein Geheimnis. Er begreifts nicht. Ein netter Junge.

JUDITH
Aber das ist gefährlich.

PARERGA
Für dich schon. Für ihn nicht.

JUDITH
Mach dich nicht lächerlich. Solange unsere Beziehung hält, sind wir frei, zu tun und zu lassen, was wir wollen. Sieh mal, da hat sich einer von seinen Falken verflogen. Es ist
›der rote,
der einst mich
mit seinen Schwingen‹ -
Das ist doch verrückt. Komm, das müssen wir feiern. Komm schöner Falke, komm kühner Jäger, du bist uns nicht mehr böse! Er kommt zurück, er kommt wirklich zurück, das ist ja wie im Märchen. Dieser Falke hätte mich geblendet, er hätte mich getötet, ich liebe dieses Tier.

PARERGA
Darf ich dich auf etwas hinweisen? Dieses Tier, das du liebst, täte es jederzeit wieder, wenn sein Herr es ihm befiehlt.

JUDITH
Irgendetwas fehlt ihm. Er sieht mich an, als hätte ich ihm etwas genommen, aus seinen Federn tropft Blut und jetzt weint er, weint richtige Tränen, wir müssen ihm helfen.
Falke! Falke!
Warum weinst du?

STIMME DES FALKEN knarrt.
Wie soll ich denn nicht weinen?
Wie soll ich denn nicht weinen?
Die Frau wirft keinen Schatten,
der Kaiser muß versteinen!

JUDITH
Weißt du, Parerga -

PARERGA
Ja?

JUDITH
Ich habe damals etwas verloren. Den Talisman mit dem Fluch, den keiner verstand. Nun, ich glaube, der Falke kennt ihn.

PARERGA
›Die Frau wirft keinen Schatten‹ -

JUDITH
›Der Kaiser muss versteinen‹ - Stimmt es, Parerga, dass wir gerade diesem Vogel zugehört haben und er uns einen Kindervers vorgesungen hat? Stimmt es, dass wir beide, du und ich, diesen Vers kennen? Ich glaube an keinen Talisman, wenn ich dich Amme nenne, dann meine ich nicht, dass ich eine Märchenkaiserin bin. Ich glaube auch nicht an blutende Mordwerkzeuge und weinende Falken, wenngleich ich mich gut zu erinnern glaube, dass dieser Vogel mich einmal zu Tode erschreckte, als ich eine Gazelle war. Aber diesen Vers kenne ich, vielleicht hat ihn meine Mutter mir eingeritzt, als sie mir im Vorbeigehen ein Buch verbot, und du kennst ihn auch: Parerga, um alles, wo finde ich den Schatten?

PARERGA
Der Mann hat sich vermessen,
dich zu seinesgleichen zu machen.
Er hat seine Chance gehabt
und er hat sie nicht genützt.
Jedes Ding hat seine Zeit
und seine Zeit läuft gerade ab.
Daran ändert er nichts und du änderst nichts und ich
ändere schon gar nichts.
Ich wüsste auch nicht, warum gerade ich daran etwas ändern sollte. Wenn du keinen Schatten wirfst, dann frage ihn, warum. Er hätte dich schwängern können, das wäre der einfache Weg gewesen, zu einfach vielleicht, aber er hätte es tun können, ihr hättet es tun können, wenn ihr es gewollt hättet. Ihr habt aber nicht gewollt.
Und dass ihr nicht gewollt habt,
sagt mehr über eure wunderbare Beziehung aus
als ihr beide wahrhaben wollt.
Da draußen erjagt er sich gar nichts.