Startseite
Ulrich Schödlbauer: Kontur der Schwester

JUDITH
Dahinter steckt meine Mutter. Immer hat sie über mich verfügt. Doch das da geht zu weit. Ab heute bin ich die Stärkere.

PARERGA
Glückwunsch.

JUDITH
Parerga, bitte, Parerga, du weißt die Wege, du kennst die Künste, niemand kann dich aufhalten. Nichts entzieht sich dir. Ich will den Schatten. Hilf deiner Judith.

Sie umschlingt ihre Knie.

PARERGA
Was geschieht, geschieht. Was beschlossen ist, gilt. Die Formel ist wirksam, auch wenn sie dich kränkt. Am besten wäre, wenn du dich fügst.
Nun ja... ich wüsste schon...
Vergiss es. Vergiss es einfach. Nein?
Wenn du es willst, wenn du es wirklich willst, dann wirst du es schaffen.
Aber du musst es selbst tun, ich kann dich nur begleiten. Weißt du, wohin?

JUDITH
Wohin auch immer.
Zeig mir den Weg.
Geh ihn mit mir.

PARERGA lacht.
Nun, das ist schnell gesagt. Wir leben hier ein wenig diesseits der Verhältnisse. Es geht uns wie den Frauen aus den Geschichtsbüchern, die sich eines Tages ein Kopftuch umbanden und in die Fabriken gingen, weil ihnen der Verdacht gekommen war, dass ihre Väter und Mütter und ihre ehrenwerten Ehegatten ihnen etwas vorenthielten, was sie die Wahrheit nannten. Es war aber nicht die Wahrheit, es war das Elend. Was uns angeht -

JUDITH
Ich will den Schatten.

PARERGA
Dann kam der Krieg und sie gingen in die Lazarette, weil sie es nicht ertrugen, nichts zu tun, während die Männer die Last des Vaterlands zu fassen bekamen. Es war aber nicht das Vaterland, das sie entdeckten, sondern das Grauen. Es kam eine Zeit, da ließen sie sich ausbilden, in Reih und Glied aufstellen und legten den Eid auf die Zukunft ab. Es war aber nicht die Zukunft, an der sie mitarbeiten durften, sondern das Verbrechen.

JUDITH
Ich will den Schatten.

PARERGA
In Beijing holte man den Herrscher des Himmels aus seinem Palast und machte einen Zwangsarbeiter aus ihm. Man wog die Verbrechen, die er mangels Gelegenheit nicht begehen durfte, mit anderen Verbrechen auf. Als ich jung war, trugen wir die Portraits von Massenmördern auf unseren T-Shirts, bis wir entdeckten, dass die revolutionären Jungs das Alphabet unserer Titten etwas anders buchstabierten, als wir glaubten. Ich hatte Freundinnen, die sich auf diese Entdeckung hin tätowieren ließen, aber abgeschreckt hat das keinen. Nichts hat sie abgeschreckt, gar nichts.

JUDITH
Ich will den Schatten.
Lass uns gehen.

Morgenlicht.

PARERGA
Gern, sehr gern. Im Sonnenlicht sieht man die Schatten besser, nachts verliert sich ihre Kontur. Du wirst schon sehen, was du davon hast. Meinen kann ich dir nicht geben, ich brauche ihn selber. Du wirst nicht die einzige sein, die keinen wirft. Einige haben ihn hinter sich gelassen, weil sie es so eilig hatten, in die Zukunft zu kommen, dass sie jetzt nicht mehr zurückkönnen. Andere hatten nie einen, vor denen sollst du dich fürchten. Die meisten sind stolz auf ihn, aber es ist ihnen peinlich, sobald die Rede auf ihn kommt. Du wirst schon eine finden, die ihn dir verkauft.

JUDITH
Hüte dich vor den Spiegeln, hat sie gesagt. Sie schätzen es nicht, wenn sie keinen Schatten sehen, auch wenn sie ihn geringschätzen. Verrückt. Ich kann mich vor keinem Spiegel hüten. Ich konnte es noch nie.

PARERGA
Ich spüre, dass du zitterst. Vergiss den Ausflug. Wir können nichts machen, das ist die Wahrheit.

JUDITH
Du kennst sie, das ist schön für dich. Aber das bisschen Mut, das es braucht, um zu tun, wovor einem schaudert, habe ich allemal. Vergiss nicht, dass ich eine Gazelle bin und den Falken liebe.

PARERGA
Ich habe so wenig vergessen wie du, dass ich da unten jedes Gesicht kenne und jeden Betrug. Du vertraust auf dich, das ist schön, aber eigentlich vertraust du auf meinen schlechten Geschmack und meine krummen Gedanken, die deine geraden enthalten, weil sie länger sind. Komm, meine Tochter!

Erdenflug, Musik.